Virtueller Roadtrip: Mercedes-Benz bringt die Entdeckerfreude zurück ins Auto
Stuttgart/Berlin – Wie wird das Automobil der Zukunft zu einem Verkehrsmittel zwischen Realität und Cyberspace? Das ist eine der Fragen, die Mercedes-Benz bei seinem diesjährigen Future Talk mit Ingenieuren, Designern, Wissenschaftlern und Journalisten diskutiert hat. Nach Utopie und Robotik widmete sich der nunmehr dritte Mercedes-Benz Future Talk der virtuellen Realität – der Virtualisierung des Fahrzeuginnenraums als neuer Erfahrungshorizont der Mobilität des 21. Jahrhunderts.
Unter dem Motto „Going Virtual – the Automotive Experience of the Future“ diskutierten Vertreter von Mercedes-Benz mit Journalisten verschiedener Medien sowie interdisziplinären Experten die Rolle der Virtualität im digitalisierten Automobil. Zu den Experten des diesjährigen Future Talks gehörten Anke Kleinschmit, Leiterin der Daimler Konzernforschung, Ralf Lamberti, verantwortlich für User Interaction und Connected Car bei Daimler, Cade McCall, Psychologe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, Alexander Mankowsky, Zukunftsforscher der Daimler AG sowie Prof. Erich Schöls, Interaktionsdesigner und Wissenschaftlicher Leiter des Steinbeis Forschungszentrums Design und Systeme in Würzburg.
Virtualität als wichtiger Aspekt der Digitalisierung
Für Anke Kleinschmit ist die Virtualisierung des Automobils ein wichtiger Teil der Digitalisierungsstrategie bei Daimler: „Virtualität macht die Digitalisierung im Fahrzeug unmittelbar erlebbar. Damit ist sie eine der Schlüsseltechnologien für die Mobilität im 21. Jahrhundert. Das Auto der Zukunft erschließt für seinen Fahrer auch den virtuellen Raum und wird zu einem Third Place zwischen Zuhause und Arbeitsplatz.“ Kleinschmit hat im Unternehmen langjährige Erfahrung als Entwicklungsingenieurin und leitet die Forschungsabteilung seit Anfang 2015. Dabei sieht sie in der Forschung zwei wichtige Felder: „Erstens die Innovationsforschung, zweitens die Trend- und Zukunftsforschung. Letztere bildet sozusagen das Fundament unserer zukünftigen Innovationen.“
Die Zukunft der Mobilität wird damit nicht nur technologisch erforscht, sondern auch soziologisch, kulturwissenschaftlich und philosophisch. Man schaue vor allem auf die Rolle des Automobils in der Gesellschaft, so Kleinschmit. Wenn es um die Zukunft der Mobilität geht, dann frage man sich, welche Wünsche und Bedürfnisse die Menschen haben und wie man diese erfüllen könne. Mit Erfolg: 2014 war Mercedes-Benz der Automobilhersteller mit den meisten Patentanmeldungen. Beim AutomotiveINNOVATIONS Award 2015 wurde Mercedes-Benz als innovationsstärkste Premiummarke ausgezeichnet.
Das virtualisierte Automobil als Erlebnisraum der Zukunft
Einen ersten Ansatz, wie umfassend die Virtualisierung im Automobil umgesetzt werden kann, zeigte Mercedes-Benz zu Beginn des Jahres auf der CES in Las Vegas – der F 015 Luxury in Motion bietet einen Ausblick auf einen virtualisierten Innenraum und die damit verbundenen Möglichkeiten. Das Auto wird zu einem fahrenden Teil des Internets, in dem viele Oberflächen des Innenraums als Bildgeber und Informationsquelle fungiert. Für Kleinschmit ist der Weg damit klar aufgezeigt: „Das Auto der Zukunft wird zu einem mobilen Erlebnisraum, der die Reisenden mit ihrer Umgebung verbinden kann: sozial, informativ, anekdotisch. Die Umgebung kann dem Reisenden Geschichten erzählen oder als Spielfläche dienen. Dieses Konzept funktioniert schon länger. Früher half das Spiel »Ich sehe was, was du nicht siehst« Kindern eine lange Fahrt zu verkürzen. Topographie und Bewegung waren zu einem spannenden Spiel verbunden. Mit der Virtualisierung kann ich mir viele neue Angebote vorstellen. Virtuelle und physische Realität verschmelzen spielerisch.“
Wie vielfältig die Möglichkeiten sein können, hat Mercedes-Benz beim Future Talk mit einer dreidimensionalen Simulation beispielhaft gezeigt: Die Passagiere können sich ihre aktuelle Umgebung in Tagesansicht anschauen, obschon sie nachts unterwegs sind, Werbung oder Lärmschutzwälle ausblenden und einen unverfälschten Blick auf Stadt oder Natur erhalten. Sie können während der Fahrt eine Zeitreise unternehmen und etwa das Brandenburger Tor nicht im Hier und Jetzt beobachten sondern am 9. November 1989.
Sie können sich nach Bedarf Informationen über interessante Gebäude oder Trends der Stadt und ihrer Bewohner ins Fahrzeug holen, die Stadt von oben betrachten oder virtuell in ein anderes Fahrzeug springen, um sich während der Fahrt am Zielort umzuschauen. Und wer arbeiten, ausruhen oder sich entspannt unterhalten möchte, wählt vielleicht eine beliebige rein virtuelle Kulisse, die die entsprechende Stimmung unterstützt.
Den Effekt des Verschmelzens der virtuellen und der physischen Realität sieht auch Cade McCall, Psychologe und Forschungsgruppenleiter in der Abteilung für Soziale Neurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig: „Für unser Gehirn spielt es erst einmal keine Rolle, ob es tatsächliche oder virtuelle Informationen verarbeitet. Wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind, nehmen wir virtuelle Welten leicht als Realität wahr und gehen darin auf.“ McCall erläuterte Virtualität vom Standpunkt der Psychologie aus und erklärte, wie das menschliche Gehirn auf virtuelle Impulse reagiert: „Das Gehirn konstruiert zu jeder Zeit Erfahrung. Virtualität klinkt sich in diesen Prozess ein und versorgt uns mit Elementen einer augmentierten oder alternativen Welt. Im Auto der Zukunft sorgt diese Immersion für eine besondere Eingebundenheit des Fahrers in die Virtualität des Fahrzeuginterieurs. Die natürliche Interaktion mit der Umgebung schafft ein natürliches Präsenzgefühl in einer künstlich gestalteten Realität.“
Die Rückkehr des Abenteuers
Dieser Aspekt ist für den Zukunftsforscher Alexander Mankowsky eine wichtige Leistung zukünftiger Technologien: „Heute ist die Windschutzscheibe das Fenster zur Welt, ihr Rahmen die Begrenzung des auf den Verkehr gerichteten Blickes. Autonome Fahrfunktionen werden den Blick befreien. Anhand der durchfahrenen Topographie verknüpfen wir Big Data mit den vom Fahrzeug sensorisch erfassten Informationen zu einem reichhaltigen Reiseerlebnis.
Ganz nach Wunsch und Bedürfnis des Fahrers kann sich die Straße verwandeln – aus einer anonymen Transportzone wird eine multimediale Enzyklopädie, eine Zeitmaschine, ein Ort zum Träumen oder aber zum aktiven Austausch mit Freunden.“ Der Futurologe verspricht sich von der Virtualisierung vor allem eine neue Entdeckerfreude: „Die Außenwelt wird zeitlich und räumlich transparent. Ich kann Informationen einholen, die Realität beliebig erweitern, die Perspektive wechseln oder in Traumwelten versinken. Im Fokus stehen dabei die individuelle Gestaltung von Zeit und Raum und die soziale Interaktion als zentrales Bedürfnis der Menschen.“
Auch Professor Erich Schöls vom Steinbeis Forschungszentrum Design und Systeme argumentierte in diese Richtung. Er verwies auf die Historizität solcher Erfahrungen. Erweiterte oder vollständig generierte Wahrnehmungsmodelle seien nicht wirklich neu. Erste bahnbrechende Versuche in diese Richtung gehen zurück in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, als sich Pioniere wie Fred Waller, Morton Heilig oder Ivan Sutherland mit stereoskopischen Bildern, richtungsweisenden Interaktionsmodellen oder wissenschaftlichen Fragen zu den Auswirkungen von Realitätssimulationen beschäftigt haben.
Mobilität im Cyberspace
Seit wenigen Jahren, so Schöls, sei für jedermann Hardware verfügbar, die einen weitreichenden Einblick in das zulasse, was uns in absehbarer Zeit erwartet: „Virtuelle Wahrnehmungswelten, die das menschliche Bewusstsein in Räume entführt, die bislang nur in unserer Phantasie oder in Träumen existiert haben. Schon heute ist der Grad der Immersion bei einigen Anwendungen so hoch, dass ein fast natürlicher Umgang des Menschen mit der generischen, künstlichen Kulisse möglich wird.
Dabei werden immer mehr Sinne berücksichtigt und immer natürlichere Interaktionsmodelle implementiert. Der Weg von der Realität in die virtuelle Welt ist dabei fließend.“ Schöls erinnerte allerdings auch an Hürden der Akzeptanz, die virtuelle Technologien noch überwinden müssen: „Während sich »Extended-Reality-Anwendungen« zunehmend in Industrie, Kultur und Gesellschaft etablieren, stehen viele Menschen dem Eintauchen in vollständig artifizielle Umgebungen im Moment noch etwas misstrauisch gegenüber.“
Der Professor ist sich dennoch sicher, dass diese Hürden mit der Zeit abgebaut werden: „Mit zunehmend sinnvollen Anwendungen und weiter optimierten Technologien wird sich dies aber bald ändern. Der Mensch wird den Cyberspace als eine nützliche und interessante Bereicherung mit riesigen Potenzialen schätzen.“
Anke Kleinschmit sieht diesen Aspekt auch im Bereich der Mobilität als eine wegweisende Innovation: „Sie befahren mit Ihrem Auto nicht mehr nur den Verkehrsraum, sondern auch den Cyberspace – den kybernetischen Raum, in dem die Mobilität des Menschen mit technischen Mitteln erweitert, ergänzt und verbessert wird.“ Neben der Zukunftsforschung arbeiten viele weitere Bereiche bei Daimler daran, die Virtualität ins Fahrzeug der Zukunft zu bringen – etwa im Bereich Digital Graphic & Corporate Design unter Prof. Klaus Frenzel oder im Entwicklungsbereich Digital Vehicle & Mobility von Sajjad Khan. Im Blick hat Daimler dabei immer eines: den konkreten Nutzen, der sich aus einer Technologie für die Menschen ergibt.
Quelle: Daimler AG